auf dem Dempster Highway

Nach genau einer Woche erreicht Thomas Muhler auf seiner 1.600 Kilometer langen Mountainbike-Expedition von Whitehorse nach Tuktoyaktuk gut 90 Kilometer hinter den faszinierenden Tombstone Mountains den heißersehnten Halbzeitpunkt. Sichtbare Zeichen der extremen Kälte, Erschöpfung und Anstrengung sind zwar zu erkennen, aber dennoch ist die Stimmung im Team hervorragend. Die Rezeptur der guten Laune ist einfach aber wirkungsvoll: ein paar Stunden erholsamer Schlaf und ein günstiger Wettereinfluss, der das Thermometer um ein paar wertvolle Grade klettern lässt. Das Spezialequipment der Sponsoren leistet das Seine dazu. Unter den schwierigen Bedingungen der arktischen Kälte und Trockenheit lassen sich nur vage Mutmaßungen über das Vorankommen in den nächsten Tagen stellen. Bisher lag die tiefste Temperatur bei minus 31° Grad Celsius.


Bis Dawson City durfte sich Thomas Muhler auf dem dem Klondike Highway optimaler Wetterbedingungen erfreuen. Die Straße war überwiegend gut befahrbar, die Temperaturen blieben deutlich unter minus 20° Grad Celsius. Jeden Tag saß er zwischen acht und zwölf Stunden im Sattel und spulte die geplanten Tagesetappen von 120 Kilometer Länge ohne große Erfrierungserscheinungen ab. Bis zur Goldgräberstadt lieferte er sich förmlich ein Kopf an Kopf Rennen mit dem ersten zu erwartenden Musher beim berühmten Yukon Quest Schlittenhunderennen. Dort ist für die Musher ebenfalls ein Zwischenstopp festgelegt. Mit einer Stunde Vorsprung fuhr er schließlich über die Checkpoint-Ziellinie vom Quest und freute sich danach unbeschreiblich, den ersten Musher persönlich dort begrüßen zu können. „Ich habe selber einen Huskie zu Hause und bin großer Schlittenhunde-Fan. Das hier einmal hautnah zu erleben ist ein Traum“, so ein glücklicher Muhler.

im Nirgendwo zwischen Dawson City und Inuvik

Nach der Einfahrt in Dawson City fällt auch die Anspannung der letzten sieben Tage auf kanadischen Boden wie von selbst ab und macht einem neuen Gefühl Platz: Nervenkitzel! Denn jetzt beginnt die eigentliche Tortur – die Fahrt auf dem Dempster Highway. Ist er schon in der schneelosen Zeit eine echte Herausforderung für Mensch und Material, so erst recht im arktischen Winter - 746 frostige Kilometer über Schnee- und Eiswüsten durch das unwirtlichste Stück Nordamerikas. Ständige Wetterkapriolen, Blizzards, Windgeschwindigkeiten von bis zu 120 km/h, kaum Verkehr (= wenig Rettungsmöglichkeiten) und enge Pisten sorgen dafür, dass der Adrenalinausstoß zu dieser Jahreszeit immens ist. „Jetzt geht es quasi schon auf die Schlussgerade hoch in den eiskalten Norden – nur ist diese halt noch knapp 1000 Kilometer lang und unberechenbar.

 

Ohne Zweifel kann ich meine Furcht davor nicht leugnen, aber ich habe ein Team von Spezialisten und erfahrenen Profis dabei. Somit sollten die äußeren Bedingungen perfekt sein,“ so die Einschätzung von Thomas. Rund um die Uhr wird der Mountainbiker vom Augsburger Arzt Christian Schmittinger betreut. „Die Gefahr von Erfrierungen ist hier allgegenwärtig. Besonders an Händen, Füßen und im Gesicht. Ich muss ihn alle 30 Minuten auf Frostbites kontrollieren“, so der Arzt zu den gegenwärtigen Gefahren. An diesem frischen Morgen, als Thomas Muhler vom Klondike Highway auf den Dempster Highway abbiegt, zeigt das Thermometer erstmals minus 29 Grad Celsius Lufttemperatur an. „Es ist einfach erstaunlich, dass mein Magellan GPS-Gerät und meine Polar Bike-Uhr am Lenker, diese Temperaturen besser ertragen als ich“, scherzte Thomas noch vor diesem ersten Härtetest.

Mutter Natur

„The Dempster will take care of you“ sagen die Einwohner Dawsons. Ab jetzt bestimmt „Mutter Natur“ über das Schicksal der Expedition. Und sie empfängt uns mit überwältigen Eindrücken. Tagsüber verwandelt die tief stehende Sonne die Landschaft in ein rosarotes Aquarell, nachts wehen Polarlichter eisgrün am Himmel. Mit jedem Atemzug stößt Thomas Muhler eine weiße Dampfwolke aus. Mit aller Kraft stemmt er sein Fahrrad die Hänge hinauf. Die Stollen seiner griffigen Conti-Winterreifen bohren sich unter dem enormen Gewicht immer tiefer in den verreisten Schnee. Der Puls schießt hoch. Adrenalin in den Venen, pochender Herzschlag – trotz Training. Seine Sinne sind geschärft, sein Verstand hellwach. “Du musst hier extrem vorsichtig in den Abfahrten sein. Das Lenkverhalten ist der Wahnsinn auf den vereisten Stücken. Einmal von der Ideallinie abgekommen, ist es fast unmöglich, ohne Sturzgefahr das Fahrrad wieder auf den richtigen Kurs zu bringen“, beschreibt Thomas die Streckenverhältnisse. Wichtige Tipps für den optimalen Fahrstil, ergonomische Sitzpositionen, sowie stets angepasste Streckenplanungen, erhält der Frankfurter Abenteurer vom ehemaligen Marathon-Profi Charlie Leidel, der ihn im „Pacecar“ ständig im Abstand von 20-30 Metern folgt.

In den vergangen zwei Tagen bekam Thomas einen unbarmherzigen Vorgeschmack auf die Kälte, die ihn in den nächsten Tagen permanent ins Gesicht wehen wird. Mit einem Eisgesicht und gar einem Eiszapfen am Kinn radelte er zum Ziel in Dawson, dem Downtown Hotel. Mit Sicherheit ist Thomas Muhler kein Topathlet, aber er hat etwas, was alle großen Abenteurer gemeinsam haben: diesen unbändigen Drang die persönlichen Grenzen kennenzulernen und die Lust am Fahrradfahren bis zum Horizont.  Die perfekte Krönung für einen unvergesslichen Vormittag erlebte Thomas Muhler am zweiten Tag auf dem Dempster Highway, als er zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Hubschrauber zum Startpunkt der Tagesetappe geflogen wurde. Anschließend wurden mit ihm Film- und Fotoaufnahmen von seinem Medienteam aus dem Helikopter gemacht.

Eagle Plains

Das nächste große Ziel ist Eagle Plains. Der winzige Punkt auf der Landkarte liegt gut in der Mitte des Dempster Highways und versorgt alle Reisenden mit dem lebenswichtigen Benzin, warmen Essen und Trinken sowie der einzigen Herberge im Umkreis von 350 Kilometern. Es ist die einzige Stelle auf dem Dempster Highway, wo man Schutz gegen die arktische Kälte finden kann. „Bis dort wird jeder Kilometer qualvoller. Mein Stundenschnitt fällt jetzt schon teilweise auf 12-14 km/h. Und dann immer diese Steigungen und Abfahrten in den Tombstone Mountains. Normalerweise macht eine Abfahrt ja Spaß, hier ist es der reinste Horror. Ich hoffe wir müssen vorher nicht wieder in der freien Wildnis zelten.“ Denn nach dem ersten Camplager bei nächtlichen Temperaturen von minus 22° Grad, als Thomas unter freiem Himmel an der Feuerstelle geschlafen hatte, stand schnell fest, das Zelten die letzte Kraft aus seinem Körper zieht. Kaum hatte er diese Sätze gesprochen, da zeigte sich „Mutter Natur“ erstmals von einer anderen Seite – Wind. Nun rollt Thomas Muhler, komplett in Thermokleidung verpackt, in Richtung Eagle Plains. Die gefühlte Temperatur dürfte dabei die minus 30° Grad Celsius Marke ohne Probleme erreichen.

Thomas Muhler erreicht bei minus 46 Grad Tuktoyaktuk am Polarmeer

Nach 14 Tagen durch die Eishölle des Yukons und den Northwest Territories in Kanada fuhr der 43-jährige Frankfurter Unternehmer Thomas Muhler völlig verfroren mit seinem Focus Bike in Tuktoyaktuk ein. Unter extrem arktischen Bedingungen ist er 1600 Kilometer von Whitehorse bis nach Tuktoyaktuk (Tuk) geradelt. „Das war die härteste Tour meines Lebens. Hier oben mit dem Fahrrad bei den Eskimos anzukommen ist ein Traum, den ich mir immer verwirklichen wollte. Es war eine qualvolle Tortur hierhin. Noch nie ist ein Mensch hier mit dem Fahrrad hergekommen. Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen“, seufzt Thomas Muhler durch seine gefrorene Gesichtsmaske während ihm die Tränen nur so in die Skibrille laufen.  

 

Hinter ihm liegen 220 Kilometer Eisstraße, 746 km Dempster Highway Gravel Road, 474 km Klondike Highway, 160 km auf dem Yukon Trail, 3 kontinentale Wasserscheiden, 2 Ice Bridges (Peel und Mc Kanzie River), 3 Gebirgsketten, 2 Orte mit mehr als 1000 Einwohnern – und das alles zur kältesten Zeit des Jahres.  

 

Ausgerechnet auf der letzten Tagesetappe von 50 Kilometern auf der Eisstraße nach Tuk bestand permanent die Gefahr von Erfrierungen. Denn an diesem Tag fegte der Wind nur so über das zwei Meter dicke Eis des gefrorenen Ozeans, so dass er eine gefühlte Temperatur von minus 46 Grad zu ertragen hatte. Lag sein Stundenschnitt zuvor immer zwischen 12 und 18 km/h, so musste er diesmal sein Bike sogar schieben und benötigte mehr als sechs Stunden für das eisige Schlussstück. Bis minus 30 Grad funktionierte die Temperaturanzeige seines Magellan GPS Gerätes. Aber das Thermometer gab jetzt keine Auskunft mehr über die Kälte. Die Sicht reichte nicht einmal für 500 Meter, das Ziel schien somit in unendlicher Ferne. Wer so jemand wie ihn jemals sehen würde auf Europas Straßen, der müsste ihn ohne weiteres für einen Verbrecher halten: Nur winzige Löcher in seiner Gesichtsmaske, die entzündeten Augen komplett mit einer Skibrille abgedeckt, der ganze Körper und Kopf mit Wärmepacks vollgestopft, jede offene Stelle im Gesicht mit Tape abgeklebt, nur durch das Visier der Blick auf die spiegelglatte Straße. Wenn er die Gesichtsmaske auch nur für einen Moment lüftete, brannte die Kälte wie ein Rasiermesser, das mit schnellem Schnitt quer übers Gesicht gezogen wird. Auf der ganzen Tour hatte Thomas mit den Bronchien zu kämpfen, die starkes Husten bei der eisigen Luft verursachte. Alle zwanzig Minuten musste er die Skibrille und die Maske wechseln, da sich das Eis dann bis ins Innere durchgebohrt hatte. Er schleppte sich so mutterseelenallein wie eine Menschenseele nur sein kann übers Eis. Bei seiner Geschwindigkeit von 8 km/h hörte er lediglich das laute Knirschen von 590 Spikes, die sich pro Sekunde in den gefrorenen Ozean bohrten. „Da ich jeden Tag bis zu acht Liter Flüssigkeit zu mir nehmen musste, hatte ich große Angst vorm Pinkeln auf der Eisstraße. Denn bis ich mich hier aus der mehrschichtigen Winterkleidung gepellt habe, besteht große Gefahr von Erfrierungen. Bei diesen Temperaturen kann es nämlich schon nach 40 Sekunden zu ernsthaften Schäden kommen. Die Kälte findet selbst die kleinste Öffnung in der Kleidung und schleicht sich unaufhaltsam ein. Deshalb musste ich verdammt schnell sein und habe immer nur 20-30 Sekunden offene Flächen riskiert. Es ist kaum zu glauben, aber man kann schon nach fünf Sekunden auf seiner eigenen Pinkelfläche Schlittschuhlaufen“, beschreibt Thomas das kleine menschliche Bedürfnis. In den 14 Tagen bis Tuk fordert die Kälte 10 Kilogramm seines Körpergewichts, da sein Stoffwechsel mit erhöhter Anstrengung die Körpertemperatur zu halten versuchte.

Am Ziel

Zum Glück ist Thomas Muhler ohne Erfrierungen davongekommen. Der Lohn für die ganzen Strapazen war ein unvergesslicher Abenteuertrip durch eine der landschaftlich schönsten und bizarrsten Flecken dieser Erde. „Noch nie zuvor in meinen Leben habe ich so intensive Bekanntschaften mit Mutter Natur gemacht“, resümiert Thomas in Tuk. Alleine 36 Stunden hing er in Eagle Plains fest, da der Dempster Highway aufgrund von Schneestürmen mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 km/h gesperrt wurde. Eagle Plains befindet sich genau in der Mitte des Dempster Highways, ist der einzig rettende Zufluchtsort für Übernachtungen, Essen und Benzin. Genau hier erlebte er dafür die schönsten Polarlichter seines Lebens. „Besonders die Tierwelt hat mich hier fasziniert.“ In der berühmten Goldgräberstadt Dawson City durfte Thomas Muhler den späteren Sieger des legendären Schlittenhunderennens „Yukon Quest“ Mackey am dortigen Checkpoint persönlich begrüßen und mit ihm ein wenig über Abenteuer sprechen. Aber auch mit drei Luchsen stand Thomas Auge in Auge gegenüber. Lautlos traten die Kumpels aus dem Dickicht. Auf einmal standen sie dort. Der dünne Eishauch ihres Atems umtanzte die Schnauzen, dahinter warteten die Augen. Drei Luchse mit Wohnsitz Yukon hatten sich also mitten auf der Straße vor Thomas aufgebaut – und zehn Meter weiter dachte Thomas Muhler, Kurzhaarfrisur, wolkenloses Gemüt für 360 Tage im Jahr, demzufolge die Verkörperung des Sonnenscheins – dieser Muhler aus Frankfurt, dachte nun über den Frankfurter Zoo nach, wo ein solider Zaun zwischen Mensch und Tier für Sicherheit sorgt.    

 

Und schließlich erlebte Thomas Muhler, der sonst Kinos in Russland plant, sein eigenes Gehirnkino in den schwarzen Nächten des Yukons – Szenen, die nicht existieren. Der Schnee und die Bäume schaffen bei Nacht ein weißes Theater der Illusionen. „Wow! Plötzlich waren sie da. Ganz klar, da standen die Leute. An der Haltestelle ein paar Meter vor mir. Warteten dort auf den Bus. Wo sie hinfahren mochten um diese Zeit? Nur dreihundert Meter noch...Und zack, Zauberei – ein Blinzeln verwandelte die Menschen in stumme Bäume“, schildert Thomas den Spuck.  

 

Mit drei Begeleitfahrzeugen war das achtköpfige Expeditionsteam mit Arzt, Mechaniker, Guide, Teamkapitän, Fotografin und TV-Team aufgebrochen um ans andere Ende der Welt zu gelangen. Sofern es die Temperaturen zuließen hatte das komplette Team sogar draußen in Zelten geschlafen. Die kälteste Nacht unter freiem Himmel wurde mit minus 24 Grad gemessen. Jetzt hat Thomas Muhler nur noch einen Wunsch: “Zurück ins warme Moskau“. Auf die Frage nach einer neuen Abenteueridee antwortet er direkt: „Das Thema Kälte ist jetzt durch für mich. Hier würde ich kein zweites Mal mehr fahren wollen. Ich denke jetzt wäre Südamerika oder Südafrika ein ernsthaftes Thema. Auf jeden Fall möchte ich kurze Hosen tragen können.“