Türkei am Limit: Arbeit im Erdbebengebiet & Aufgabe im Schneesturm - Pedal for Paws

Manche Leute fragen uns, ob wir jemals daran gedacht haben, aufzugeben und die Reise abzubrechen. Die Antwort ist ganz einfach: nicht ein einziges Mal. Die Neugierde auf das, was uns hinter der nächsten Kurve erwartet, ist viel größer als jede Herausforderung auf diesem Weg. Und wenn uns alles zu viel wird, wir nicht mehr wir selbst sind und vor lauter körperlicher und geistiger Erschöpfung oder Frustration eklig zu uns oder anderen werden, dann nehmen wir uns Zeit für eine Pause: 1 Stunde, 1 Tag, 1 Woche. So viel wie eben nötig.

Für den Tierschutz fahren wir, Xenia (33) und Joscha (32), seit August 2022 in Richtung Thailand um den Globus. Vor ca. 1,5 Jahren haben wir den Bürostuhl in Berlin gegen den Fahrradsattel getauscht und sind über 10.000 Kilometer von Berlin über Istanbul und dann in einer großen Schleife über Saudi Arabien, Oman, Iran und Irak zurück in die Türkei gefahren. Unser großes Fahrradabenteuer mit dem Ziel zur Finanzierung einer mobilen Tierklinik geht für eine zweite Runde in die Türkei.

Zum zweiten Mal in die Türkei zu reisen, fühlt sich für uns fast wie nach Hause kommen an. Es ist das erste Mal, dass wir auf dieser Reise ein Land zweimal besuchen, und wir sind total aufgeregt. Nachdem im letzten Jahr jedes Land völliges Neuland für uns gewesen ist, tut es gut, in vertrauten Gewässern zu schwimmen. Auch wenn Ostanatolien fast nichts mit der westlichen Provinz Marmara und Istanbul gemeinsam hat, kommt es uns vor, als wären wir schon einmal hier gewesen. Nach Jordanien, Saudi-Arabien, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Iran und dem Irak gibt uns die Türkei ein Gefühl von Heimat.

Vielleicht liegt es auch daran, dass so viele Menschen hier eine enge Verbindung zu Deutschland haben. Wir treffen immer wieder Menschen, die früher in Deutschland gelebt haben und die dort noch Familie haben. Deshalb freuen sich die Leute oft sehr, wenn sie erfahren, dass wir von Deutschland bis in die Türkei geradelt sind. Viele von ihnen sprechen noch Deutsch und so kommt es nicht selten vor, dass wir uns in irgendeinem Dorf plötzlich auf Deutsch unterhalten können. Hier wird uns bewusst, wie eng unsere beiden Länder miteinander verwoben sind. Wie immer werden wir mit der größten Gastfreundschaft empfangen. Wir genießen den Austausch bei vielen Gläsern Chai, und so verbringen wir am Ende fast drei Monate in der Türkei.

Warum wir Tiere retten wollen
Die Zeit in Antakya, der Stadt an der südtürkischen Mittelmeerküste, gehört zu den prägendsten und wichtigsten Erlebnissen dieser Reise. Als wir in Berlin mit dem Fahrrad losgefahren sind, haben wir so gut wie nichts gewusst. In fast allen Bereichen sind wir absolute Anfänger: Fahrräder, Radreisen, Camping und Tierschutz.

Aber wir haben eine Idee, die in unseren Köpfen immer mehr Gestalt annimmt und in uns eine Energie entfacht, die wir noch nie zuvor gespürt haben. Wir haben Lust, uns auf Unbekanntes einzulassen und dabei unsere Welt nicht nur besser kennenzulernen, sondern sie auch ein bisschen besser zu machen. So ist das Projekt “Pedal For Paws” und die Spendenkampagne für eine mobile Tierklinik entstanden.

Wir haben weder ernst zu nehmende Erfahrungen mit Haustieren, noch haben wir uns jemals im Tierschutz engagiert. Dennoch steht für uns von Anfang an fest, dass wir unsere Reise den Tieren widmen wollen. Schnell kommen uns Straßentiere in den Sinn, denn von früheren Reisen wissen wir, dass sie unsere ständigen Begleiter sein werden. Und so ziehen wir los, naiv und unerfahren. Unterwegs lernen wir fast alles und die Zeit im Rettungscamp von Notpfote Animal Rescue e.V. in Antakya spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die Entscheidung, das Camp zu besuchen, ist relativ spontan. Es liegt nicht einmal auf unserer Route. Noch während wir durch den Irak radeln, hören wir von dem Engagement von Notpfote in der Türkei und der Wunsch zu helfen ist groß. Kurzerhand werfen wir unsere Pläne über Bord und nehmen einen 800 km langen Umweg entlang der syrischen Grenze in Kauf.

Uns fehlen die Worte
Erst vor Ort wird uns bewusst, was das Erdbeben im Februar 2023 in diesem Teil der Welt angerichtet hat. Alles scheint so unwirklich. Es fühlt sich an, als wären wir nicht mehr auf unserem Planeten, sondern irgendwo in ein postapokalyptisches Zeitalter katapultiert worden …

90 % der Stadt ist zerstört und nichts erinnert mehr an ein normales Leben. Viele Menschen haben ihr Leben, ihre Häuser, ihre Jobs und ihre Zukunft verloren.

Einige wenige sind in andere Städte umgezogen, doch die meisten leben immer noch hier in provisorischen Zelten oder Containern. Niemand weiß wirklich, wie es weitergeht und wann sie wieder in eine normale Unterkunft ziehen können. Gleichzeitig werden den ganzen Tag über Ruinen abgerissen und der Schutt abtransportiert. Ein Dunst aus asbestverseuchtem Staub bedeckt die Stadt.

Wir sehen die Zerstörung und die einsturzgefährdeten Häuser mit unseren eigenen Augen, aber der Eindruck bleibt surreal. Kurz nach dem Erdbeben sind die Menschen erst einmal auf sich allein gestellt gewesen, doch schnell ist Hilfe aus der ganzen Welt angekommen. Einige liegen 24 bis 72 Stunden lang unter Trümmern begraben. Für einige kommt eine Bergung zu spät. Tausende haben nicht überlebt. Monatelang hat es keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine Sanitäranlagen gegeben. Unvorstellbar.

Heute sind fast alle Wohltätigkeitsorganisationen wieder abgereist und Spenden kommen nur noch spärlich an. Die Menschen sind auf sich allein gestellt. Diese Eindrücke hier zu beschreiben, würde weit mehr Sätze erfordern, als möglich sind, aber uns fehlen die Worte.

Doch eine Organisation ist geblieben: Notpfote aus Deutschland.

Und obwohl die meisten Menschen alles verloren haben und über ihre Zukunft im Ungewissen sind, kümmern sie sich um die Schwächsten. Selten haben wir so viel Menschlichkeit, gegenseitige Unterstützung und Liebe zu den Tieren erlebt wie hier in Antakya. Notpfote hat in Zusammenarbeit mit lokalen Freiwilligen seit dem ersten Tag unglaubliche Arbeit geleistet und unzählige Straßen- und Haustiere aus den Trümmern gerettet und medizinisch versorgt. Und wir haben die Ehre, eine Zeit lang vor Ort dabei zu sein. Wir unterstützen das Team bei der täglichen Arbeit für fast drei Wochen und lernen extrem viel über die Arbeit im Tierschutz und Umgang mit medizinisch akuten Fällen.

Der Weg durch Zentralanatolien
Die letzten milden Tage haben wir hinter uns gelassen, als wir das Tierrettungscamp der Notpfote in Antakya verlassen haben. Von nun an wird ein Mix aus Regen, steilen Bergen und Minustemperaturen den Alltag bestimmen. Die ersten Tage nach einer längeren Radpause sind für uns immer die schlimmsten. Die Kondition hat nachgelassen, die Lunge spielt nicht mit und auf den ersten Kilometern geht es vor allem darum, den stressigen Großstadttrubel hinter sich zu lassen. Innerhalb einer Woche sinkt die Temperatur von mediterranen 18°C auf eisige 4°C. Und die ganze Zeit denken wir an unser undichtes Zelt und die regenreiche Nacht, die uns bevorsteht.

Es hilft auch nicht, dass Xenia von einem Moment auf den anderen übel wird. Während wir versuchen, einen fiesen Anstieg zu meistern, sagte sie plötzlich, dass sie nicht mehr weiter könne. Sie muss sich hinlegen, und zwar sofort. Aber um uns herum gibt es keine Möglichkeit des Unterschlupfs. Das Ackerland rechts und links von uns steht unter Wasser, und sobald wir stehen blieben, frieren wir. Xenia hat keine Wahl. Sie muss die Zähne zusammenbeißen und irgendwie weiterfahren. Nach mehreren verlassenen Tankstellen finden wir schließlich eine, die noch in Betrieb ist. Während Xenias Augen sich mit Tränen füllen, erkläre ich (Joscha) dem Besitzer unsere Situation, und er zögert keine Sekunde. Er öffnet für uns eine Art Schuppen, der zu einem Gebetsraum umfunktioniert wurde. Es ist kalt, aber trocken und mit Teppichen ausgelegt. Es ist einfach perfekt. Xenia wartet keine Sekunde und legt sich sofort mit ihrer nassen Kleidung auf den Boden. Und ich bin erleichtert und unendlich dankbar, dass es in der Türkei immer wieder Menschen gibt, die Fremden einfach so helfen. Sie bringen uns sogar eine Heizung und wir sind einfach nur froh, dass wir die Nacht im Trockenen verbringen können. Solche Momente gibt es immer wieder in diesen kalten Tagen.

Vom Schneesturm überrascht
An einem Tag müssen wir sogar aufgeben und umkehren. Schon am Morgen stehen die Zeichen schlecht, als wir aus dem Fenster schauen. Eine dicke Schicht Neuschnee hat das ganze Dorf im anatolischen Mittelgebirge bedeckt und immer mehr Schneeflocken fallen vom Himmel. Die Temperatur beträgt -5 Grad. Mehrere Leute haben uns davor gewarnt, bei diesem Wetter aufzubrechen, aber wir haben uns entschlossen, es zu versuchen. So schlimm kann es nicht sein. Wir machen uns also auf und merken schnell, wie anstrengend dieser Tag werden würde. Die Kälte, die Glätte und die Steigung sind Bedingungen, die wir in diesem Ausmaß bisher noch nie bewältigt haben. Sogar die Lastwagen bleiben bei den rutschigen Straßenverhältnissen stecken und müssen auf Hilfe warten. Doch wir bleiben zuversichtlich und überholen die Schwergewichte im Schneckentempo. Trotz der schlechten Sicht kommen wir sogar gut voran. Das geht so lange gut, bis es uns heftig von der Seite trifft. Ein heftiger Schneesturm bläst uns nicht nur fast von den Rädern, sondern lässt auch unsere Gesichter und Extremitäten erfrieren. Die Schneeflocken stechen unsere Gesichter wie tausend Nadeln. Es tut weh, wir sind durchnässt und werden erst von Zweifeln und dann von Panik ergriffen. Wir sind noch nicht einmal auf dem Gipfel und haben einen großen Teil des Weges noch vor uns. Körperlich und geistig sind wir jedoch bereits am Limit. Es ist eine dieser “Ich schaffe das nicht”-Situationen. Was für eine Scheiße!

Irgendwann sehen wir ein, dass es keinen Sinn mehr ergibt. Wir müssen kurz vor dem Gipfel umkehren. Der Sturm ist zu stark. Und selbst in einer so aussichtslosen und frustrierenden Situation sind es die Menschen, die einem die Hand reichen und helfen. Auf dem Rückweg sammelt uns die örtliche Straßenmeisterei auf und bietet uns in ihrem beheizten Quartier Unterschlupf. Völlig durchnässt, klamm, aber dennoch erleichtert, können wir uns von dieser Höllenfahrt erholen.

Diese Reise ist wie eine riesige Akademie
Jedes Land bietet uns neue Herausforderungen. Wir sagen immer, diese Reise ist wie eine riesige Akademie und jedes Land ist wie ein weiteres Modul im Lehrplan. Wären wir von Berlin aus in die kalten Berge der Türkei geflogen und hätten die Anstiege bei Minusgraden meistern müssen, wären wir wahrscheinlich sofort und kläglich gescheitert. Wir wären nicht darauf vorbereitet gewesen und hätten sicher am Ende den leichteren Weg gewählt (zB den Weg, per Anhalter zu fahren). Aber alle Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, haben uns gezeigt, dass wir immer viel mehr können, als wir denken. So oft blieb uns nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und es irgendwie zu schaffen. In diesen Situationen haben wir alles und jeden verflucht, aber am Ende haben uns auch all diese beschissenen Momente hierher gebracht. Wir glauben, dass 90 % einer solchen Reise mentale Arbeit sind und dass diese mentale Stärke mit der Erfahrung wächst. Je länger man unterwegs ist, je mehr man durchgemacht und überwunden hat, desto eher glaubt man, dass man die nächste Herausforderung auch meistern kann. Nach viel Wüste, Hitze, Feuchtigkeit und Bergen steht in der Türkei das Modul "Kälte" auf dem Lehrplan. Und wir haben trotz Eisfingern und Rückschlägen richtig Bock.

Türkei, das Nr.1 Reiseland?
Ob mit dem Camper, per Anhalter oder mit dem Rad, alle lieben ihre Zeit in der Türkei. Und das zu Recht! Das Land bietet vielfältige Landschaften, wunderschöne Küstenabschnitte, viele Berge, Geschichte, Kultur, gutes Essen, eine große Couchsurfing-Community und grenzenlose Gastfreundschaft. Es ist so einfach, sich hier wohl zu fühlen. Die schönsten Momente sind für uns die kurzen Pausen, die wir unterwegs einlegen. Egal, wo wir unsere Räder für einen Moment abstellen, das erste, was wir überall hören, ist die Frage "Chai?". Wir antworten jedes Mal mit einem breiten Lächeln: "JA!" Wir lieben diese Teepausen. Sie entschleunigen uns und bringen uns mit den Menschen zusammen. Wir plaudern viel, bekommen viele unserer Fragen beantwortet und lernen das Land jedes Mal ein bisschen besser kennen.

In der Türkei wissen wir, dass wir uns auf die Menschen verlassen können. Sie stehen uns immer bei und helfen uns in Notsituationen aus. Wir dürfen uns am Feuer wärmen, wenn wir wegen der Minusgrade durchgefroren sind. Und wir werden immer und immer wieder ganz selbstverständlich zum Essen eingeladen. Wir sind den Menschen hier so dankbar, dass sie so gut zu uns sind. Gerade als Radfahrer:in merken wir immer wieder, wie verloren wir wären, wenn die Menschen nicht so gut und hilfsbereit wären. Zudem bietet dieses Land aus unserer Perspektive eine perfekte Mischung aus Gastfreundschaft, Privatsphäre, Natur, Kultur und Geschichte.

Entscheide selbst, ob die Türkei die Nr. 1 ist, aber sie steht für uns auf jeden Fall weit oben auf der Liste der beliebtesten Länder für Überlandreisende.

Verfolge unsere Weiterreise gerne auf Instagram: @project.pedalforpaws.

Wir freuen uns auf Dich.

Xenia & Joscha

Unsere Fahrräder: Böttcher Expedition, Rohloff Speedhub 500/14

 

Ein kleiner numerischer Überblick:
- 12.000 km durch 17 Länder mit dem Fahrrad

- 2 Rohloff-Ölwechsel pro Rad

- 2 Ketten-und Reifenaustausch pro Rad

Weitere Informationen zu unserer Route und Ausrüstung findest du hier.