Steppe weit und breit. Radeln durch Südrussland Teil 2 & Kasachstan - Pedal for Paws

Wir sind Xenia (33) und Joscha (32) und seit über zwei Jahren mit dem Fahrrad auf Weltreise. Für den Tierschutz sind wir seit August 2022 über Umwege unterwegs nach Thailand. Dafür haben wir als blutige Anfänger den Bürostuhl in Berlin gegen den Fahrradsattel getauscht und über 15.000 Kilometer von Berlin über Istanbul, Saudi Arabien, Iran, Irak, Türkei, Georgien nach Russland zurückgelegt. Im April 2024 überqueren wir die Grenze zur Russischen Föderation und erleben mehrere Republiken mit interessanter Vielfalt und komplizierter Vergangenheit. Dann radeln wir weiter von Dagestan nach Kalmykien - dem einzigen buddhistischen Land Europas!

Obwohl wir in den letzten Wochen alle drei Tage das Gefühl haben, in einem völlig neuen Land zu sein, ist es in Kalmückien am stärksten. Hier fühlen wir uns kurzzeitig unserem Ziel in Thailand näher als unserem Ausgangspunkt in Berlin, oder wie Alice, die durch den Kaninchenbau in ihr Wunderland gelangte. Die vielen Städte verschwinden und machen Platz für eine wunderschöne, weite Steppe mit bunten Blumen. Moscheen verwandeln sich in Tempel mit weißen Stupas und Buddhastatuen. Und auch die Menschen haben ihr Aussehen verändert.

Die Kalmücken sind Nachfahren der Westmongolen, die sich als Nomadenvolk im 17. und 18. Jahrhundert an der unteren Wolga niederließen. Nach der russischen Revolution wurden jedoch alle Tempel und Klöster zerstört, Lamas und Mönche getötet. Während des Zweiten Weltkriegs wurden sie wie viele andere ethnische Minderheiten als Gefangene in Arbeitslager nach Sibirien deportiert. Erst nach Stalins Tod durften sie 1956 nach Kalmückien zurückkehren. Doch erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion darf der Buddhismus dort wieder offiziell praktiziert werden. Deshalb bemühen sich die Kalmücken seit Anfang der 1990er Jahre, das buddhistische Erbe ihrer Heimat wiederzubeleben. 

Wie schon zuvor in den anderen Republiken haben auch die Kalmücken eine eigene Sprache, die heute kaum noch jemand spricht. Wir fragen eine junge Familie, warum das so ist. Sie erzählt uns, dass sie ihren Sohn aus dem Kalmückisch-Unterricht genommen hat, weil es viel zu kompliziert sei. Ihr Sohn habe vor Verzweiflung geweint. Er solle lieber Englisch lernen.

Doch auch wenn vieles anders ist als in den Republiken zuvor, ist eines geblieben: die Freundlichkeit. Im wohl einzigen Laden des Dorfes Ulan Khol lernen wir Ervina kennen. Ervina hat gerade ihr Grundstudium in Jura abgeschlossen und hilft in den Ferien im Laden ihrer Eltern aus. Sie erzählt uns von ihren Träumen und Ängsten und wir bekommen noch einmal eine ganz andere Perspektive auf aktuelle Geschehnisse. Wir sehen diesen kleinen Vogel, der sich sein Leben lang darauf gefreut hat, loszufliegen und die Welt zu entdecken. So wie wir, als wir Anfang 20 waren. Und so, wie wir es jetzt seit fast zwei Jahren jeden Tag tun dürfen. Doch dieses scheinbar „einfache“ Privileg ist selten auf diesem Globus. Das wissen wir inzwischen sehr gut. Und doch tut es immer wieder weh, wenn wir in die Augen der Menschen schauen, die uns sagen: „Was ihr macht, war schon immer mein größter Traum“. Sie müssen uns nicht erklären, warum es schwieriger ist, in ihren Schuhen zu stecken. Und warum diese Schuhe jetzt noch schwerer geworden sind.

Im Schlafwagen entlang der Wolga

Bevor wir Russland verlassen und uns den unerbittlichen Kräften der kasachischen Steppe stellen, erfüllen wir uns noch einen kleinen Traum: einmal mit dem Zug durch die Weiten Russlands zu fahren.

Unseren alten Lebenstraum, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren, haben wir spontan in eine Low-Budget-Version umgewandelt. Statt mehrere Tage quer durch Russland bis nach Wladiwostok fahren wir nur 7 Stunden nach Wolgograd. Es ist also nicht wirklich vergleichbar, aber das ist uns jetzt auch egal, denn es ist dieses einmalige Erlebnis im Zug, das wir immer wollten. Alles ist so ganz anders, als wir es von den Fernzügen daheim kennen. Und hier erfüllt sich Xenia noch einen persönlichen Wunsch: einmal Tee aus den Gläsern mit den verzierten metallenen Teeglashaltern trinken, die es schon seit 1892 in den russischen Eisenbahnen gibt. Eine Erfahrung, die sie nach den vielen Erzählungen ihrer Eltern schon immer machen wollte. Wir kaufen noch schnell einen Teebeutel bei der Schaffnerin und bekommen kostenlos heißes Wasser aus dem Samowar. Wir setzen uns an unseren Tisch, schneiden Mohnkuchen auf und genießen den Sonnenuntergang hinter der Wolga. Es ist einfach alles perfekt, womit wir so gar nicht gerechnet haben. Wir wissen nicht einmal, dass wir beide jeweils ein eigenes Bett haben würden. Irgendwie sind wir völlig unvorbereitet. Vielleicht ist das auch das Geheimnis einer guten Reise. Nichts zu wissen und es einfach auf sich zukommen zu lassen. Während die Landschaft an uns vorbeizieht, denken wir über den letzten Monat und die 1000 km nach, die wir in dieser Föderation geradelt sind. Ist das wirklich alles passiert?

Auch wenn das hier nur ein ganz kleiner Ausflug ist. Für uns fühlt es sich wie eine ganz große Reise an, die wir nicht wieder vergessen werden. Und vielleicht muss es nicht immer die ganz große Reise sein, auf die man ewig spart und an die sich so viele Erwartungen knüpfen. Vielleicht sind es gerade die kleinen, spontanen Low-Budget-Ideen, die den Alltag erhellen.

Auf dieser Welt gibt es keine einfachen Antworten

Unsere Zeit in Russland ist vorbei und es gibt einiges zu verarbeiten. Ein Land ist mehr als seine Regierung. Davon sind wir nicht nur fest überzeugt, sondern erleben es auch immer wieder am eigenen Leib, wenn wir mit dem Rad von Land zu Land reisen und dabei die unterschiedlichsten Einblicke gewinnen. Ein Land ausschließlich nach den Menschen zu beurteilen, die an der Macht sind, und es aufgrund ihrer Politik zu meiden, ist weder fair noch bringt es uns als Gesellschaft weiter. Wir bilden uns Meinungen aufgrund von Hörensagen und bauen Mauern zu Menschen auf, die wir gar nicht kennen. Warum tun wir das? Warum denken wir immer nur in schwarz und weiß, in gut und böse, in Freund und Feind? Warum lassen wir uns so leicht beeinflussen und pauschalisieren ein ganzes Land? Warum fehlt uns die Fähigkeit zu differenzieren? Ist es uns zu anstrengend? In Schubladen zu stecken und pauschal zu urteilen ist einfacher und gibt uns das Gefühl von Übersicht und Kontrolle. Aber wir leben in einer hochkomplexen Welt mit massiver Informationsasymmetrie. Und in dieser Welt gibt es keine einfachen Antworten. Wir haben nichts davon, uns zu hassen und zu bekriegen. Wir können jeden Tag entscheiden, wer wir sein wollen. Wir können uns von Medien, Politik, Propaganda und Populismus dazu verleiten lassen, alle Menschen auf der anderen Seite der „Mauer“ pauschal zu hassen. Wir können aber auch über diese vermeintliche Grenze schauen und versuchen, einander zu begegnen - menschlich. Dialog statt pauschalisierten Hass auf das „Fremde“. Ja, das kostet Überwindung und mehr Arbeit, als wenn wir uns einfach unserer Schubladen bedienen würden. Es ist leicht zu hassen und zu verurteilen. Sich auf verschiedenen Ebenen zu informieren, zuzuhören, Dissonanzen zu überwinden und zu differenzieren, ist anstrengend. Sie wollen, dass wir uns hassen, aber Hass war schon immer der falsche Weg.

Erfüllt, glücklich und nachdenklich erreichen wir den Grenzübergang "Kotjaevka". Ein neues Land erwartet uns.

Die Steppe Kasachstans

Die Durchquerung der heißen und windigen Steppe Kasachstans im Sommer hat es ganz schön in sich, aber wir beißen uns durch. Das ist wohl ein "Beat The Heat - Volume 2" nach unserem heißen Sommer im Oman und Iran letztes Jahr (nur Gott sei Dank nicht so feucht).

Wir könnten auch den beliebten Zug nehmen, um diese anstrengende vermeintliche Einöde zu überspringen, aber irgendwie fühlt sich dieser Gedanke nicht gut an. Für uns gehört es auch zu einer Radreise, dass es Phasen gibt, in denen es nicht viel spannende Ablenkung gibt. Wo es mehr darum geht, sich durchzubeißen und vorwärts zu kommen. Schließlich haben wir uns bei dieser Reise auch bewusst für die Qualen entschieden, die so einen Weg oft mit sich bringen, um auf all die Tiere aufmerksam zu machen, die keine Wahl haben. Die jeden Tag auf der Straße leiden und ums Überleben kämpfen. Deshalb radeln wir weiter und berichten darüber.

Es ist nicht immer nur die Hitze, die zur Herausforderung wird. Innerhalb eines Augenblicks werden wir Zeuge und Teil eines heftigen Regensturms. Gerade noch haben wir Selfies mit einem turkmenischen LKW-Fahrer gemacht, der uns Snacks und Wasser aus dem Fenster gereicht hat, da trifft es uns mit voller Wucht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als wie angewurzelt stehen zu bleiben, das Rad gegen den starken Wind zu stemmen, zu lachen ... und zu fluchen. Wo kommt das denn jetzt her? Der LKW-Fahrer ist so nett und bleibt bei uns stehen, bis wir uns wieder in der Lage fühlen, weiter zu radeln. Ja, er bietet sogar an, unsere Räder hinten aufzuladen und uns mitzunehmen. Aber in diesem Moment ist es uns auch egal. Wir sind eh schon völlig durchnässt.

An anderen Tagen können wir die Schönheit nicht fassen, die uns umgibt. Wir sitzen in der kasachischen Steppe, umgeben von Pferden und Kamelen, kochen am Abend unseren Buchweizen, während neben uns die Sonne dramatisch untergeht. In unserer kindlichen Fantasie haben wir uns Zentralasien immer als weite Flächen mit vielen galoppierenden Pferden und grasenden Kamelen vorgestellt. Dass wir genau solche Bilder geliefert bekommen, hat uns dann doch überrascht. Wir müssen uns kurz zwicken, um zu realisieren, dass das alles hier wirklich passiert.

Auch auf einer so abwechslungsreichen Reise kommt irgendwann der Alltag durch. Jeden Tag ist der Kopf voll mit grundsätzlichen Fragen. Wann kommt die nächste Verpflegungsmöglichkeit? Wie viel Wasser haben wir noch? Was kochen wir? Wo zelten wir? Wann stehen wir auf? Welche Route nehmen wir? Wann ist die Sonne am höchsten und der Wind am stärksten? Wir packen aus, wir bauen auf, wir kochen, wir essen, wir spülen ab, wir schlafen, wir packen ein, wir radeln, wir tanken auf, wir suchen, wir packen aus. Wir laufen wie eine gut geölte Maschine, die schon ganz automatisch läuft.

Da kann es schon mal passieren, dass man vergisst, dass man hier einen lang gehegten Traum lebt. Wir sind tatsächlich in unserem ersten zentralasiatischen Land angekommen. Das wird uns erst jetzt bewusst. Dabei haben wir Kasachstan (wie auch schon Russland) für diese Reise gar nicht in Betracht gezogen. Umso schöner, dass wir jetzt hier sind.

Wie oft passiert uns das eigentlich? Dass wir irgendwo im Leben sind, wovon wir lange geträumt haben und dann vergessen, es in dem Moment wahrzunehmen und zu schätzen.

Nach 800 km durch West-Kasachstan

In manchen Ländern fällt uns das Ankommen leichter als in anderen. Auf unserer Route durch den südwestlichen Zipfel Kasachstans haben wir unsere Schwierigkeiten damit, echte Verbindungen zu den Menschen aufzubauen und uns so der Kultur anzunähern. Wir fragen uns oft, ob wir etwas falsch machen oder ob es einfach eine andere Mentalität in dieser Ecke des Landes ist. Eine, die wir noch nicht verstanden haben. Meistens sind wir allein auf den 800 km durch die weite Steppe. Und in jedem Ort hoffen wir dann, ein bisschen ausführlicher mit den Menschen reden zu können. Irgendwie gelingt uns das mit den Erwachsenen nur halbwegs. Und irgendwie fühlen wir uns ein wenig einsam hier. Selten haben wir das Gefühl, dass die Menschen an richtigen Gesprächen interessiert sind und der Mut, mehr und tiefergehende Fragen zu stellen, verlässt uns mit der Zeit immer mehr. Das ist für uns eine neue Erfahrung.

Wir wollen aber nicht ein ganzes Land nur nach unserer individuellen Wahrnehmung beurteilen. Das wäre vermessen. Wir sagen uns deswegen immer wieder, dass wir irgendwann unbedingt noch andere Ecken Kasachstans sehen wollen, um uns ein umfassenderes Bild machen zu können. Zum Beispiel die aufregende ehemalige Hauptstadt Almaty in den Bergen oder den Nordosten Kasachstans, wo früher viele Russlanddeutsche lebten. Wir sind uns sicher, dass dieses große Land vielfältig ist und viel zu bieten hat. Deshalb wollen wir versuchen, unsere wenigen Erfahrungen richtig einzuordnen und differenziert zu betrachten. Aber wir wollen auch ehrlich sein. So richtig warm geworden sind wir hier bis auf wenige Ausnahmesituationen nicht. Und wir grübeln immer noch viel darüber nach, woran das liegt. Was hätten wir anders machen können? Sind wir zu sehr daran gewöhnt, in jedem Land mit einem breiten Lächeln und offenen Armen empfangen zu werden? Warum war es zuvor in Russland und Georgien so anders? Wir wissen es nicht.

Was wir aber wissen, ist, dass es mit den Kindern ganz anders ist. Ihre positive Energie, ihre Neugier und ihre lebendige Kommunikation stecken uns immer wieder an. Sie sind so lieb, höflich und wir lachen viel zusammen. Das hat uns immer wieder aufgemuntert.

 

Verfolge unsere Weiterreise gerne auf Instagram: @project.pedalforpaws.


Wir freuen uns auf Dich.

 

Xenia & Joscha

 

Unsere Fahrräder: Böttcher Expedition, Rohloff Speedhub 500/14

 

Ein kleiner numerischer Überblick:
- 15.300 km durch 20 Länder mit dem Fahrrad

- 2 Rohloff-Ölwechsel pro Rad

- 2 Ketten-und Reifenwechsel pro Rad

 

Weitere Informationen zu unserer Route und Ausrüstung findest du hier.