Pulverfass Nordkaukasus? Wir radeln durch die Russische Föderation Teil 1 - Pedal for Paws
Wir sind Xenia (33) und Joscha (32) und seit fast zwei Jahren mit dem Fahrrad auf Weltreise. Für den Tierschutz sind wir seit August 2022 über Umwege unterwegs nach Thailand. Dafür haben wir als blutige Anfänger den Bürostuhl in Berlin gegen den Fahrradsattel getauscht und über 13.000 Kilometer von Berlin über Istanbul, Saudi Arabien, Iran, Irak, Türkei und Georgien zurückgelegt. Im April 2024 überqueren wir die Grenze in ein besonderes Land - die Russische Föderation. Es spielt eine wichtige Rolle in Xenias Leben und ist eine Rückkehr in ihr Geburtsland.
Xenias Geschichte und die der Russlanddeutschen
Das bin ich: Xenia Wasiljewna Buchmüller, geboren in den letzten Atemzügen der Sowjetunion, im März 1991 in Sibirien, hinter dem nördlichen Polarkreis. Es war unser letztes Weihnachtsfest, bevor wir im Jahr 1995 in das Land unserer Vorfahren zogen: Deutschland. Ich bin eine sogenannte Russlanddeutsche. Das bedeutet, dass meine Vorfahren vor über 200 Jahren der Einladung der damaligen Zarin Katharina der Großen gefolgt sind und zusammen mit tausenden anderen Deutschen Kolonien im russischen Zarenreich gegründet haben. Meine Vorfahren mütterlicherseits (die Pfaffenrots) ließen sich an der Wolga in der Nähe von Samara nieder. Deshalb nannte man sie Wolgadeutsche. Meine Vorfahren väterlicherseits (die Buchmüllers) ließen sich einige Jahre später am Schwarzen Meer in der Nähe von Mariupol (Oblast Donezk) in der Ukraine nieder.
In diesen Jahren gab es für viele Deutsche bzw. Europäer viele gute Gründe auszuwandern: die Folgen von Krieg, Hungersnöte, Zukunftsängste, Diskriminierung und Unterdrückung von Minderheiten etc. Sie packten ihr Hab und Gut und versuchten ihr Glück in den USA, Kanada, Südamerika und eben auch im russischen Zarenreich. Meine Vorfahren gingen ostwärts, denn dort versprach man ihnen Privilegien: Religionsfreiheit, kein Militärdienst, keine Steuern. Sie bekamen Land und konnten sich in der fernen Leere ein neues Leben aufbauen - und das taten sie auch. Nach einer harten Anfangszeit, in der sie aus dem Nichts einen gewissen Wohlstand aufbauten, verloren sie im 20. Jahrhundert nach über 100 Jahren nicht nur alles, sondern litten während der beiden Weltkriege auch unter größter Diskriminierung sowie Repressionen. Weil sie Deutsche waren, gerieten sie zwischen die Mühlen zweier totalitärer Staaten. Nachdem Nazi-Deutschland im Sommer 1941 der Sowjetunion den Krieg erklärt hatte, wurden die meisten Deutschen pauschal und im Kollektiv unter Generalverdacht gestellt. Die Regierung unter Stalin verdächtigte sie der Illoyalität sowie der Kollaboration mit dem faschistischen Feind. Die Antwort: Zwangsarbeit und Deportation nach Kasachstan und Sibirien. Die Männer wurden in die Trudarmee einberufen, die nichts anderes als Zwangsarbeitslager (Gulags) waren. Die Frauen hatten 24 Stunden Zeit, ihre wichtigsten Habseligkeiten zu packen. Sie mussten alles zurücklassen und wurden mit ihren Kindern in Viehwaggons gesteckt. So auch meine Urgroßmutter mit ihren 8 Kindern. Mein Großvater war noch so klein. Viele überlebten den Transport und die Kälte in der Steppe nicht. Meine Urgroßmutter und ihre Kinder hatten Glück. Trotz Scharlach, Hunger und anfänglicher Obdachlosigkeit haben alle Kinder überlebt. Es folgten Jahre des Hungers, der Unterdrückung und der Diskriminierung. Die Deutschen haben lange auf ihre Rehabilitierung gewartet, doch sie haben sie nie wirklich bekommen. Ein Trauma, dessen Folgen bis in die Gegenwart reichen. Aber das ist eine andere Geschichte.
In der Russischen Föderation leben immer noch über 160 ethnische Gruppen und Deutsch ist eine von über 100 Sprachen, die dort gesprochen werden.
Der Grenzübertritt in die Russische Föderation ist eine Rückkehr in Xenias Geburtsland, aber gleichzeitig eine neue Welt. Die kulturelle und ethnische Vielfalt im Nordkaukasus ist beeindruckend. Wir stellen fest, dass wir eigentlich nicht viel darüber wissen. Jeden Tag haben wir das Gefühl, durch ein völlig neues Land zu reisen. Und das tun wir auch. Die Grenze zu einer neuen Republik überqueren wir alle paar Tage. Erst hier wird uns klar, warum es eigentlich Russische Föderation und nicht Russland heißt. 21 autonome Republiken gehören zu diesem Staatsgebiet. Und durch fünf davon fahren wir auf unserer Reise: Nordossetien-Alanien, Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan und Kalmykien. Jedes von ihnen hat seine eigene Geschichte, Kultur, Religion und zahlreiche Sprachen.
Konfliktherd Nordkaukasus
Wir fragen uns, wie es ist, wenn so viel Heterogenität aufeinander trifft. Gleichzeitig wissen wir, dass gerade der Kaukasus in der Vergangenheit ein Konfliktherd war. So vielfältig wie die Menschen, die hier leben, sind auch die Meinungen und Sichtweisen auf die Vergangenheit und die aktuellen Geschehnisse.
Von der Hauptstadt Wladikawkas in Nordossetien-Alanien radeln wir nach Inguschetien. Vor 20 Jahren gab es in dieser Region noch kriegerische Auseinandersetzungen. Heute sprechen wir an einem Tag mit Menschen, die sich früher bekriegt haben. Dieses Spannungsfeld zwischen der gewünschten Autonomie der einzelnen Republiken und der gleichzeitigen Abhängigkeit von Russland spüren wir sehr oft, wenn wir den Menschen begegnen.
„Geht nicht nach Tschetschenien. Dort ist es gefährlich“, haben uns viele gewarnt. Und so reisen wir nach Tschetschenien, denn wenn es nach vielen ginge, hätten wir Deutschland und die Europäische Union nie verlassen. Wir sind gerade in die Republik Tschetschenien eingefahren und wollen eigentlich noch 45 km weiter. Doch dann fragt uns die nette Kassiererin in einem Supermarkt, ob wir bei ihr übernachten wollen. Wie immer sind wir froh, dass wir von unseren Ambitionen abgewichen sind und die Nacht bei Ayse und Ruslan verbracht haben. Sofort zerbrechen alle Vorurteile, die uns die Leute vorher einreden wollten. Schon in Georgien wurde uns gesagt, dass wir Tschetschenien meiden sollten. Die Leute seien zu gefährlich. Bei solchen Aussagen schalten wir aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen automatisch auf Durchzug.
Wir haben nicht nur viel gelacht und leckere Nationalgerichte probiert, sondern auch ganz neue Perspektiven auf das tschetschenische Volk und seine Geschichte gewonnen. Ruslans Vorfahren haben nämlich im 2. Weltkrieg ähnliches erlitten wie ein Teil von Xenias Vorfahren (die Wolgadeutschen).
Ähnlich wie der deutschen Minderheit in Russland misstraute die kommunistische Regierung unter Stalin auch den Tschetschenen, bis sie 1944 pauschal der Kollaboration mit Nazi-Deutschland verdächtigt und nach Kasachstan deportiert wurden - eine traumatische Entwurzelung, die einige ethnische Minderheiten in der Sowjetunion erlebten. Erst nach Stalins Tod 1957 durften sie in ihre Heimat zurückkehren. Ein Land, das sie nicht wiedererkannten, denn von ihrer tschetschenischen Kultur war nichts übrig geblieben. Längst lebten andere Menschen auf ihrem Land. Erst in den 80er Jahren waren sie in ihrer autonomen Sowjetrepublik wieder in der Mehrheit.
Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, sahen einige Tschetschenen die Chance auf eine dauerhafte Unabhängigkeit. Es folgten zwei blutige Kriege (1994-1996 und 1999-2009), die viele Menschen mit dem Tod und dem erneuten Verlust ihrer Heimat bezahlten. Auch Ayses Vater, Bruder und Onkel starben in diesen Kriegen. Sie hat an einem Tag fast alles verloren.
Wir können uns nicht vorstellen, was diese Menschen durchgemacht haben und wünschen ihnen nichts als Frieden und ein langes und schönes Leben.
Die diverseste Region der Russischen Föderation
Von Tschetschenien geht es weiter nach Dagestan. Diese Republik beheimatet über 100 verschiedene Ethnien und ist damit die diverseste Region der Russischen Föderation. Was uns sofort auffällt: Hier wird viel mehr Russisch gesprochen als beispielsweise im benachbarten Tschetschenien. Die Antwort ist schnell gefunden und leuchtet uns ein. Denn in Dagestan werden fast 30 Sprachen und über 80 Dialekte gesprochen. “Hier spricht jede Siedlung, jedes Dorf seine eigene Sprache. Meinen Freund verstehe ich nicht. Deshalb sprechen wir Russisch”, sagt unser Gastgeber Islam, den wir über warmshowers.org gefunden haben. Islam erzählt uns, dass er Aware ist, während sein Freund zu den Laken gehört. Russisch ist so etwas wie die Sprachbrücke zwischen den Völkern.
So ist es irgendwie erstaunlich, dass ein so polyethnisches Land wie Dagestan nach dem Zerfall der Sowjetunion von den kriegerischen Auseinandersetzungen im Kaukasus verschont blieb. Im Gegensatz zu seinen kaukasischen Nachbarn gab es in Dagestan keinen Bürgerkrieg. Im Gegenteil - so genannte „Mischehen“ scheinen hier gang und gäbe zu sein. Wir treffen einen Awaren, der sich gerade mit einer Russin verlobt hat, oder eine Deutsch-Kalmückin, die mit einem Dagestaner verheiratet ist und deren Tochter einen Tschetschenen geheiratet hat. Irgendwie finden wir das cool. Zumindest die Menschen, die wir treffen, scheinen kein Problem damit zu haben, sich über verschiedene Nationalitäten hinweg zu vermischen und zusammenzuleben.
Russland ist mehr als Moskau
Wer Russland aus der Ferne betrachtet, neigt zu der Annahme, es handele sich um eine große homogene Masse. In der medialen Berichterstattung wird gerne von „dem Russen“ gesprochen. Gemeint ist damit aber eher die Politik in Moskau - die Elite. Trotzdem entsteht in unseren Köpfen schnell das pauschalisierte Bild einer russischen Einheit. Aber diese Einheit gibt es nicht. Wenn man hierher kommt und die Menschen näher und differenzierter betrachtet, merkt man wieder, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß einzuteilen ist.
Und das lieben wir auf dieser Reise. Wir gewöhnen es uns ab, pauschal in Schwarz und Weiß zu denken. Stattdessen üben wir uns daran, in Grautönen zu denken. Und jedes Land hilft uns, darin ein bisschen besser zu werden.
Wir sind noch lange nicht fertig mit der Russischen Föderation. Die nächste Republik, die wir besuchen, ist die einzige buddhistische Republik auf dem europäischen Kontinent.
Verfolge unsere Weiterreise gerne auf Instagram: @project.pedalforpaws.
Wir freuen uns auf Dich.
Xenia & Joscha
Unsere Fahrräder: Böttcher Expedition, Rohloff Speedhub 500/14
Ein kleiner numerischer Überblick:
- 15.300 km durch 20 Länder mit dem Fahrrad
- 2 Rohloff-Ölwechsel pro Rad
- 2 Ketten-und Reifenwechsel pro Rad
Weitere Informationen zu unserer Route und Ausrüstung findest du hier.