GEWINNER-STORY

Rad ab! – 71.000 km mit der Speedhub um die Welt

Es ist immer ein einzelner Schritt, mit dem eine Reise beginnt – und sei diese Reise noch so lang. Das wird mir gleich am zweiten Tag bewusst, als ich in der Nähe von Ulm ein Hand in Hand gehendes Pärchen nach dem Weg frage. Bevor wir uns verabschieden, möchten die beiden gern wissen, wohin ich denn fahre.

 

"Nach Kapstadt", sage ich nur, weil mir "einmal um die Erde" hier irgendwie unpassend vorkommt. Doch im gleichen Moment wird mir klar, dass auch das ein bisschen verrückt wirken muss. Einen Deutschen, der durch Afrika radelt, trifft man üblicherweise in Kairo, in Kenia, in Namibia. Aber doch nicht in Deutschland. Und so, wie ich dastehe, unterscheide ich mich eigentlich auch nicht von einem, der nur nach Spanien radelt.

"Wie lange sind Sie denn schon unterwegs?" fragt er.
"Einen Tag." – Wir müssen alle lachen.

 
Aber so ist es nun einmal: Auch die längste Tour beginnt mit einem einzelnen Schritt. Noch viele, viele Schritte werden folgen, und immer wird der jeweils nächste weitaus länger erscheinen als die, die in der Ferne noch bevorstehen. Die Ferne – das ist ja etwas Diffuses, was seine Größe erst offenbart, wenn man näher gekommen ist.

 

Nach dreieinhalbtausend Kilometern ist Europa für mich zu Ende: Über die südliche der beiden Bosporus-Brücken radele ich hinüber nach Asien. In vier Jahren werde ich an gleicher Stelle auf meinen Heimatkontinent zurückkehren – was ich selbst allerdings noch nicht weiß. Die Reiseroute ist, wie auch die Reisezeit, offen. Es gibt keine festgelegten Etappen, nur grobe Richtungen. Fernziel: einmal um den Erdball. Nahziel: südliches Afrika. Hauptziel: unterwegs sein.
Der Nahe Osten ist gastfreundlich wie eh und je – abgesehen von den Gegenden, in denen der Tourismus blüht und die Geldbeutel der Menschen dicker und die Herzen ein wenig kälter geworden sind. Nach Syrien ist der Massentourismus glücklicherweise noch nicht eingerückt. Entsprechend herzlich wird der Reisende aufgenommen. Als Radler kommst du gar nicht so recht voran, fangen die Einheimischen dich doch geradezu von der Straße weg, weil sie unbedingt bei ein paar Gläschen Tee mit dir schwatzen wollen.

 

Nach dreieinhalbtausend Kilometern ist Europa für mich zu Ende: Über die südliche der beiden Bosporus-Brücken radele ich hinüber nach Asien. In vier Jahren werde ich an gleicher Stelle auf meinen Heimatkontinent zurückkehren – was ich selbst allerdings noch nicht weiß. Die Reiseroute ist, wie auch die Reisezeit, offen. Es gibt keine festgelegten Etappen, nur grobe Richtungen. Fernziel: einmal um den Erdball. Nahziel: südliches Afrika. Hauptziel: unterwegs sein.

Der Nahe Osten ist gastfreundlich wie eh und je – abgesehen von den Gegenden, in denen der Tourismus blüht und die Geldbeutel der Menschen dicker und die Herzen ein wenig kälter geworden sind. Nach Syrien ist der Massentourismus glücklicherweise noch nicht eingerückt. Entsprechend herzlich wird der Reisende aufgenommen. Als Radler kommst du gar nicht so recht voran, fangen die Einheimischen dich doch geradezu von der Straße weg, weil sie unbedingt bei ein paar Gläschen Tee mit dir schwatzen wollen.

Nur mit Händen und Füßen laufen diese Unterhaltungen manchmal ab, in passablem Englisch ein andermal, meistens ist es eine Mischung irgendwo dazwischen. Die Fragen sind immer die gleichen: Woher? Wohin? Warum? Wie alt bist du? Was bist du von Beruf? Bist du denn nicht verheiratet? Dass einer mit 40 noch ledig ist, irritiert dabei die meisten. Was für ein komischer Europäer! Hat das Geld zum Reisen, aber nicht genug, um eine Frau zu finden. Wenn ich keine Lust zu langen Erklärungen habe, lege ich mir kurzerhand eine Familie zu: Frau blond und dreißig Jahre jung, Sohn Michael sechs Jahre, Tochter Alexandra vier Jahre. Das passt einigermaßen ins Bild.



Das unmögliche Visum

"TOD FÜR DROGENSCHMUGGEL" steht groß und fett ganz oben auf dem Einreiseformular für Saudi-Arabien. Was für eine herzliche Begrüßung! Da bleibt nur zu hoffen, dass einem niemand kurz vor der Grenze was ins Gepäck gesteckt hat.

Trotzdem bin ich überglücklich, dieses Formular endlich in Händen zu halten. Drei Wochen habe ich in Damaskus vergeblich auf das saudische Visum gewartet. Fehlschlag auch auf der Botschaft in Amman. Zwei Wochen Hoffen und Bangen dann in Kairo. Am Ende machte das saudische Außenministerium die große Ausnahme und stellte mir über das Kairoer Konsulat ein Visum für die Durchreise mit dem Fahrrad aus.

Das Ganze ist nun zu einer hochoffiziellen Angelegenheit eskaliert: An der Grenze wartet ein Vertreter des Wohlfahrtministeriums, der mich in der nächsten Jugendherberge einquartiert. Und jede Jugendherberge, die auf dem Weg nach Jemen liegt, wurde ebenfalls aus Riad angewiesen, mich gastfreundlich aufzunehmen.
20 Kilometer vor Mekka muss ich von der Autobahn runter – weil ich kein Moslem bin. Riesige Schilder weisen den Weg. Wie wir auf der Autobahn Richtung Norden lesen: "Würzburg geradeaus, Kassel rechts ab", steht hier unübersehbar: "Moslems geradeaus, Non-Moslems rechts runter".

 

Auf der Umgehungsstraße, der Non-Moslems Road, heftet sich ein Polizeiwagen an meine Pedale. Er ist nur der erste von etwa 30, die mich – immer im fliegenden Wechsel – bis hinunter zur jemenitischen Grenze eskortieren. 800 Kilometer insgesamt. Offiziell will man mich vor den saudischen Rasern schützen. Aber sicherlich sollen sie auch kontrollieren, dass ich nicht von der vorgegebenen Route abweiche.

 

Im Jemen hätte ich mir wegen der vielen Entführungen in den vergangenen Jahren eine Eskorte lieber gewünscht. Aber niemand entführt mich. Die Menschen sind äußerst freundlich, die zerklüftete Berglandschaft ist atemberaubend (für Radler auch im Wortsinne), die Lehmarchitektur unvergesslich.

 

Eine Sambuq, ein Handelsschiffchen aus Holz, bringt mich über das Rote Meer nach Djibouti – nach Afrika. Auf meinen Lieblingserdteil. Es ist der Kontinent, auf dem man den Boden unter den Füßen noch fühlt. Harten, aber ehrlichen Boden. Als "Dritte Welt" werden die meisten Länder Afrikas bezeichnet, von "unterentwickelten Staaten" ist gern die Rede. Aber wer ist schon der Maßstab? Die USA? Japan? Wir in Deutschland? Sind denn ausgerechnet wir genau richtig entwickelt? Oder nicht vielleicht doch ein bisschen überentwickelt?

 

 

In Kenia kommt mir der Äquator unter die Räder – Kilometerstand: 13.350. Es ist Mai. Von einem Meter auf den nächsten bin ich aus dem Sommer in den Winter geradelt. Über steinige Pisten geht es durch die Massai-Steppe in Tansania und weiter durch Malawi und Sambia zu den Victoria-Fällen an der Grenze zu Simbabwe. Die Besiedlung wird immer dünner, die letzten 4.000 Kilometer nach Kapstadt werden lange, einsame Kilometer durch die Kalahari und durch Halbwüsten. In Namibia leben so viele Menschen wie in Hamburg – auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie Deutschland.

 

Kurz vor Kapstadt erklärt mir eine weiße Südafrikanerin, wie ich auf einem kleinen Umweg sicherer ans Kap komme als auf der vielbefahrenen N7. Allerdings, sagt sie, käme ich dabei durch eine Schwarzensiedlung. Ob ich Angst vor Schwarzen hätte.


Angst vor Schwarzen? Ein guter Witz am Ende der Reise durch Afrika.

 
Viele Südafrikaner wundern sich, dass ich überhaupt durchgekommen bin. Gab es denn keine Überfälle?  – Nein. Nichts Schlimmes passiert. Zweimal allerdings hatte ich Glück: als sie mich bei den Studentenunruhen in Addis Abeba fast gesteinigt hätten und bei einer Elefanten-Attacke in Botswana.


Meine Suche nach einem Schiff Richtung Südamerika bleibt in Kapstadt eine Woche lang erfolglos. Einen Flug möchte ich vermeiden – nicht etwa aus Flugangst, sondern um des langsamen Reisens willen. Wenn man sich ein Jahr lang Kilometer um Kilometer mit dem Fahrrad vorangearbeitet hat, dann ist ein Flug zwischen den Kontinenten desillusionierend. Mit Mühe hast du dir das Gefühl erkämpft, dass die Welt groß ist, und dann macht ein kurzer Hüpfer mit dem Flieger alles kaputt.


Im Yachthafen von Kapstadt findet sich schließlich die Lösung in Form des Segelbootes "Bienvenido". Josef, der Schweizer Skipper, sucht noch einen Mitsegler für die Etappe nach Recife. Fünf Wochen verbringen wir in der schier endlosen Weite des Atlantiks. Nur einmal – auf halber Strecke bei der Insel Sankt Helena – gehen wir an Land. Als wir 15 Tage später den Norden Brasiliens erreichen, hat Josef seine Weltumseglung beendet.

 

Neue Welt

Nach den Wochen auf so beengtem Raum – die "Bienvenido" ist gerade einmal 12,50 Meter lang und vier Meter breit – wirkt die wiedergewonnene Freiheit grenzenlos. Ein großer Kontinent breitet sich vor mir aus. An der Küste entlang radele ich nach Rio de Janeiro und dann weiter ins Kontinentinnere zu den großartigen Wasserfällen von Iguaçu. In Bolivien dann der Aufstieg in die Anden. Die Sonne, die mich monatelang in schwüler Hitze quälte, wird plötzlich zu einer gerngesehenen Freundin. In über 4000 Metern Höhe sorgt sie tagsüber für einige Plusgrade, nachts aber sinken die Temperaturen auf minus 20 Grad.


Zu einem der außergewöhnlichsten Natureindrücke der gesamten Reise wird die Überquerung des Salars de Uyuni, der größten Salzpfanne der Erde. Auch sie liegt 4000 Meter über dem Meer. Diese weite weiße, leere Fläche westlich von Uyuni misst etwa 160 mal 130 Kilometer. Am Rande der gleißenden Wüste steht nach den Schneefällen der letzten Tage noch immer das Wasser knöcheltief. Wegen des hohen Salzgehalts ist es trotz der eisigen Kälte geschmolzen.


Nach einem Kilometer durch die Lake rollt das Rad wieder über trockenen Untergrund. So weit der Blick nun reicht, bis zum Horizont: nur noch Salz. Ich steuere ins Nichts. Das Tagesziel ist die Isla Incahuasi, eine Insel im Salar irgendwo vor mir – sie bleibt vorerst von der Erdkrümmung verdeckt.
Die Salzfläche ist steinhart und kaum rauer als Asphalt. Ein wenig behindern die kantigen Vielecke der Salzausblühungen; es ist etwa so, als würde man auf einer Straße fahren, die aus lauter kleinen groben Betonplatten zusammengesetzt ist. Ein regelmäßiges Hoppeln begleitet das Surren der Reifen. Ansonsten ist es vollkommen ruhig. Radeln wie auf dem Mond.


Es sind besonders diese Weiten, die den Gedanken eines Reiseradlers freien Lauf lassen. So war es in den Wüsten und Steppen Afrikas, so ist es jetzt auf dem Salar de Uyuni, so wird es auch in der Atacama wieder sein und in den unvorstellbaren Weiten Australiens. Du kannst mit viel Zeit das Erlebte verarbeiten und baust dir in der Leere des Raums deinen ganz persönlichen philosophischen Gebäudekomplex zusammen.

 

In Chiles Häfen bleibe ich glücklos, was die Weiterreise über das Meer betrifft. Die letzte Chance bietet Valparaiso, aber auch sie löst sich bald auf. Die wenigen Frachtschiffe nach Australien werden von drei Agenturen verwaltet, die ich schnell abgeklappert habe. Immer wieder das Gleiche: Passagiere dürfen sie nicht mitnehmen. In einer der Agenturen begründen sie das sogar formal – mit den Richtlinien zur Qualitätssicherung "ISO 9002". So weit sind wir also.


Ein Flugzeug beamt mich auf den anderen Kontinent, in eine andere Welt. Schön und äußerst anwechslungsreich ist diese Welt vor allem in Neuseeland, aber fast ein wenig zu einfach für den, der doch eigentlich das Abenteuer sucht. Alle paar Kilometer gibt es Campingplätze und Herbergen für Rucksackreisende. Einkaufsmöglichkeiten in der kleinsten Siedlung, die Wasserversorgung ist in diesem regenreichen Land sowieso unproblematisch. Das riecht nach Urlaub. Ja – Neuseeland und Australien werden zu meinem ersten Urlaub seit mehr als zwei Jahren.

 

Hornissen und Hühnerfüße

Südost-Asien wird aus kulinarischer Sicht zu einem Highlight: Neben Hornissen und Hühnerfüßen gibt es schließlich auch viele Dinge, die unserem gewohnten Speiseplan näher kommen. Sprachtechnisch aber ist diese Weltecke ein harter Brocken. Es gibt keine regionübergreifende Sprache wie in Afrika (Englisch bzw. Französisch) oder in Südamerika (Spanisch / Portugiesisch). Selbst in Thailand wird Englisch nur in den touristischen Orten verstanden, schon zehn Kilometer landeinwärts hilft dir allein Thai weiter.


Erschwerend kommt hinzu, dass einige südostasiatische Sprachen tonal sind. Während bei uns mit dem Anheben oder Absenken der Stimme ein Ausruf, eine Frage oder die Gemütslage signalisiert wird, ändert sich bei den tonalen Sprachen gleich der Sinn des Wortes, das Wort an sich. In Thailand gibt es fünf verschiedene Arten der Betonung, in Vietnam sind es gar sechs. Und so wird aus der Mutter (má) ein Geist, wenn du den falschen Ton erwischst, oder ein Pferd, eine Gruft oder ein Reissetzling. Die sechste mögliche Betonung meint mit "mà" das logisch verbindende "aber".

 

Was für eine gefährliche Sprache! Mutter oder Geist – da kann man sich doch wirklich leicht in die Nesseln setzen. Für so eine Sprache brauchst du einen Waffenschein!

 

Drei Monate dauern die zähen Verhandlungen, bis ich die Genehmigung erhalte, Myanmar – das frühere Birma – komplett auf dem Landweg zu durchreisen. Seit der Abschottung des Militärstaates vor über 40 Jahren ist es praktisch unmöglich, die Grenzregionen zu den Nachbarstaaten zu durchqueren. Drogenanbau und Drogenschmuggel bestimmen hier den Alltag, und die Zentralregierung in Yangon hat diese Randzonen des eigenen Landes nicht so recht unter Kontrolle.

 

Wie in Saudi-Arabien begleitet man mich auch in den Sperrgebieten Myanmars auf Schritt und Tritt. Seit meiner Einreise von China aus ist Mr. San Win, ein sehr freundlicher Mann Mitte 30, stets in meiner Nähe. Meist fährt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln voraus oder hinter mir her, streckenweise steht ihm ein Pickup mit Chauffeur zur Verfügung. San Wins wichtigste Aufgabe besteht darin, mich durch die vielen Kontrollpunkte in den Sperrgebieten zu schleusen. Das ist selbst für ihn nicht immer einfach, ist er hier doch fast genauso fremd, wie ich es als Deutscher bin.

 

So bürokratisch und rigide die Behörden in Myanmar, so überaus liebenswert sind die Bewohner dieses Landes. Mögen die Menschen im ersten Moment noch etwas zurückhaltend wirken, so beginnt ihr Gesicht geradezu zu leuchten, sobald sie die freundliche Gesinnung des Fremden erkennen. Sie haben das ehrlichste Lächeln Südostasiens: die Menschen hier – in Myanmar.


In Neu-Delhi bekomme ich überraschenderweise ein Visum für Afghanistan. Wirklich eine Überraschung. Es gab schon viel harmlosere Länder, die mir aus "Sicherheitsgründen" die Einreise verweigern wollten. Oder ist vielleicht auch in Afghanistan inzwischen Ruhe eingekehrt? So wie in Albanien und im Jemen, zwei Ländern, vor denen mich auch alle Welt warnte? Zwei Ländern, die jedenfalls ein ungerechtfertigt schlechtes Image haben.

 

Afghanistan – wahrscheinlich auch kein Problem! Denke ich jedenfalls. Frohen Mutes verlasse ich an einem Morgen im Februar Pakistan kurz hinter Peshawar im Norden des Landes. Mein Ziel ist Kabul. Es lässt sich allerdings nicht leugnen: In diesem Fall habe ich mich gründlich verschätzt.

 

Die ersten Begegnungen hinter dem Khyber-Pass stimmen mich optimistisch. Die Paschtunen gehen neugierig und friedfertig auf mich zu. Als ich am Nachmittag im "Kahlid Modern Guest House" einkehre, wird schnell ein Sohn des Hotelbesitzers aus einem anderen Stadtteil herbeigeholt, da er gut Englisch spricht. Asim, Anfang 30, hat in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad den Koran studiert und ist inzwischen nach Jalalabad zurückgekehrt. Es entwickelt sich an diesem Abend eine sehr angeregte und offene Unterhaltung. Auf die Anwesenheit der fremden Streitkräfte angesprochen, meint er: "Es ist gut, dass die Taliban vertrieben wurden; das war schon eine sehr harte Zeit."


Die Auslegung des Korans durch die Taliban ging auch den meisten strenggläubigen Moslems zu weit: Nichtreligiöse Musik war verboten, Fernsehen, Lippenstift, Krawatten, Karten- und Schachspielen, menschliche Abbildungen in jeglicher Form, sei es auf Papier, auf Münzen oder als Statuen. In der Folge dieses Verbots wurden im März 2001 auch die weltberühmten Buddhastatuen von Bamiyan gesprengt.


Mädchen durften nicht mehr zur Schule gehen, Frauen waren gezwungen, in der Öffentlichkeit die Burqa überzuwerfen, Männer mussten Bärte tragen, die mindestens faustlang waren. Allein schon wegen all dieser Zwänge und Restriktionen war die Vertreibung der Taliban für die meisten Afghanen eine Erlösung.


Wir unterhalten uns noch lange an diesem Abend. Dann falle ich müde auf die schwere Matratze, die auf dem Boden meiner Kammer liegt. Was für ein Tag! Keine Probleme bei der Einreise, nicht die geringste Spur von Anfeindungen, selbst bei Dunkelheit habe ich mich in den Straßen Jalalabads sicher gefühlt, und dann diese freundschaftliche, aufschlussreiche Unterhaltung. Ja, ich bin happy an diesem ersten Tag in Afghanistan. Hab's doch gewusst: ist gar nicht so gefährlich hier.


Doch diese Einschätzung ändert sich in den beiden folgenden Tagen gewaltig. Als ich am nächsten Abend in das Dorf Sarowbi einfahre, spüre ich sofort feindselige Stimmung, die wie Elektrizität in der Luft liegt. Männer schauen finster aus den Hauseingängen herüber, andere lachen hämisch, machen sich mit irgendwelchen Sprüchen über mich lustig, so dass auch die Umstehenden gehässig zu lachen beginnen. Am Ortsausgang, wo die Stimmung etwas entspannter ist, bleibe ich stehen, um nach Unterkunft zu fragen. Sofort umringen mich 30 Menschen, die unangenehm dicht aufrücken. Einer von ihnen spricht glücklicherweise Englisch. Schnell reiche ich ihm die Hand und begrüße ihn umschweifend. Auch wenn es ihm vielleicht nicht bewusst ist: Er ist jetzt mit dafür verantwortlich, diese unberechenbare Menschenmasse im Zaum zu halten.

 

 

Ein Hotel? Da müsse ich zurück, sagt er. – Zurück in dieses finstere Dorf zu diesen finsteren Leuten? Das will ich nicht! Zumal ich auf der steinigen Piste nur im Schritttempo vorankomme und niemandem davonfahren könnte. "Gibt es denn noch eine Unterkunft an der Straße nach Kabul?" – "Ja, ein paar Kilometer von hier ist ein Restaurant. Da kannst du übernachten."


Auch in diesem einsam stehenden Gebäude herrschen "bad vibrations". Einige der Männer machen anzügliche Bemerkungen, die sexistisch zu sein scheinen. Gerade eben erst, auf dem Weg vom Dorf zu diesem Restaurant, hatte ein Mann aus einem vorbeifahrenden Auto heraus an meinen Hintern gefasst. Weiterfahren kann ich nicht. Es ist fast dunkel, und durch die Nacht zu radeln, wäre noch gefährlicher als hierzubleiben. Ich bluffe, so gut es geht, behaupte unter anderem beiläufig, dass es die Polizei in Sarowbi war, die mich hierher geschickt hat. Die Nacht vergeht ohne besondere Ereignisse.


Im Norden Afghanistans, in Mazar-e-Sharif, fragt David, der für "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet, nach meinen Erfahrungen in diesem Land. Von vollkommen unterschiedlichen Stimmungen muss ich ihm erzählen. – "Wo gab es denn diese 'bad vibes'?" fragt er. – "Zum Beispiel in Sarowbi zwischen Jalalabad und Kabul, auch in den Außenbezirken der Hauptstadt selbst und außerdem nördlich des Salang-Passes." – Und David berichtet von der jüngsten politisch motivierten Gewalttat, bei der fünf afghanische Mitarbeiter einer Hilfsorganisation aus dem Auto gezerrt und erschossen wurden. Das war ganz in der Nähe von Sarowbi.


Da auch der weitere Weg nach Herat extrem gefährlich sei, raten mir die Leute von "Ärzte ohne Grenzen" dringend, über Turkmenistan auszuweichen. Nach über einer Woche Warten in Mazar genehmigt mir das Konsulat des nördlichen Nachbarlandes ein 7-Tage-Transit-Visum.


Turkmenistan ist eines der ganz skurrilen Länder, die ich druchradele. Allah hat Saparmurad Nijazov zu dieser Zeit noch nicht abberufen, den Egomanen, der das Land seit 1990 regiert, und den man eher unter dem Namen Turkmenbashi kennt – "Führer der Turkmenen". Turkmenbashi, wohin man schaut: An jedem öffentlichen Gebäude hängen seine großformatigen Portraits, ebenso an den Tankstellen. Auf öffentlichen Plätzen steht Turkmenbashi als Statue, auch auf den Geldscheinen sieht man ihn schon zu Lebzeiten. In der freien Landschaft stellt er sich plakatwandgroß vor: Turkmenbashi lächelt dem Betrachter zu, hinter ihm erheben sich Ölförderanlagen und Raffinerien. Oder: Turkmenbashi hat die Ärmel hochgekrempelt und hält dem Vorbeikommenden einen Laib Brot hin, als hätte er ihn gerade selbst gebacken.

 

Trotz dieses Theaters scheint der Präsident bei vielen Turkmenen nicht unbeliebt zu sein. Zwar sind die Löhne niedrig – ein Lehrer verdient etwa 80 US-Dollar im Monat –, aber dafür ist eben die Lebenshaltung günstig. Für einen Dollar fließen 60 Liter Diesel in den Tank, Strom kostet nichts, Grundnahrungsmittel sind ebenfalls fast geschenkt, und die wichtigste Medizin, der Wodka, geht in der Halbliterflasche für 40 Cent über den Kaufmannstresen.


Turkmenistan weckt Erinnerungen an das Osteuropa vergangener Zeiten. Klapprige Autos aus kommunistischer Produktion bewegen sich über die Straßen, hin und wieder auch Pferdegespanne; das Antlitz der Ortschaften ist eintönig: Plattenbauten und andere graue, funktionale Gebäude und Plätze dominieren; archaisch wirkende dreirädrige Traktoren arbeiten sich über die Felder, die Gesichtszüge der Menschen sind osteuropäisch – das könnte auch Ungarn in den 80er Jahren sein.


Und trotzdem habe ich das Gefühl, in die moderne Welt zurückgekehrt zu sein. Nach der Reise durch das in vielerlei Hinsicht noch mittelalterliche Afghanistan erscheint mir das turkmenische Leben wie der Gipfel des Fortschritts. Mit diesem Gefühl, schon fast zu Hause zu sein, kommt plötzlich auch so etwas wie Heimweh auf. Ich stelle mir den Moment vor, in dem sich in Erlangen der Kreis meiner Erdumradlung schließt. Eine glückliche Fügung – bis vor kurzem noch hatte ich regelrecht Angst vor der Heimkehr.


Sechs Wochen Zeit nehme ich mir für den Iran, fünf Wochen für den asiatischen Teil der Türkei, bevor ich über den Bosporus wieder nach Europa zurückkehre. Am Schwarzen Meer fragen mich viele Menschen, Einheimische wie auch Touristen, ob ich denn tatsächlich den ganzen Weg bis nach Südosteuropa geradelt bin. – Geradelt? Natürlich, bis hierher. Aber soll ich wirklich lang und breit erklären, dass es nicht 2.000 Kilometer waren, sondern 69.000?


Weiter, weiter, nach Westen. Kurz vor Linz biege ich rechts ab, nach Tschechien. Das ist ein Umweg, aber ich mag Erlangen zu direkt nicht anpeilen, will vorher noch ein bisschen den Osten und den Norden Deutschlands auf mich wirken lassen.


Budweis, Pilsen, Komotau. Dann der letzte Ausreisestempel, die letzte Grenze, der letzte Einreisestempel – Den deutschen Stempel gibt es für einen Deutschen natürlich nur auf besonderen Wunsch. Seit der rumänisch-ungarischen Grenze drücken mir die Beamten diese Andenken nur noch auf Nachfrage in den Pass. Bis nach Rumänien war es selbstverständlich und sogar vorgeschrieben, dass Ort und Datum der Einreise dokumentiert sind.

 

Deutschland! – Hat es sich verändert in den letzten vier Jahren? Zunächst freilich fällt mir nur Oberflächliches auf. Geiz scheint inzwischen etwas Gutes zu sein. So liest es sich jedenfalls auf den Werbewänden. Und das Wort "billig"? Das war doch früher ebenfalls negativ belegt – jetzt geben Lebensmittel-Discounter damit an, billig zu sein. Sieht aus, als hätte die Werbung den einen oder anderen Begriff wieder salonfähig gemacht. Der Media-Markt fordert unterdessen die offenbar übersatten Konsumenten mit riesigen Plakaten zum Weiterkonsumieren auf: "Kaufen! Marsch, marsch!" Das wirtschaftliche Wachstum hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter seinen Grenzen genähert. Mir will bloß noch nicht in den Kopf, warum es ein Problem ist, wenn alle satt sind.


Über Berlin geht es nach Hildesheim, wo ich meine Mutter überrasche. Gezielte Fehlinformation hat dazu geführt, dass sie mich noch am ungarischen Plattensee wähnt. Nun steht sie in der Haustür und braucht einige Momente, bis sie mich erkannt hat.


Ein Katzensprung ist es von Hildesheim zu den Rohloff-Werken in Kassel. Bernd und Barbara Rohloff möchten natürlich wissen, wie das Getriebe die 71.000 Kilometer überstanden hat. Alles bestens, das Ding läuft wie eine Nähmaschine. Die Speedhub ist wirklich eine geniale Entwicklung!


Ein strammer Radeltag bringt mich durch die Rhön nach Bad Königshofen. Hier schlage ich neben einem Wohnmobil-Rastplatz mein Zelt zum letzten Mal auf.


Zum letzten Mal. Die 1433ste Nacht auf dieser Reise. Nach 71.000 Kilometern über fünf Kontinente durch 55 Länder geht ein Lebensabschnitt zu Ende.


Und dann kommst du an. Langsam und doch plötzlich. Du bist am Ziel.

 

Am Ziel?


Du bist gar nicht angekommen. Du bleibst nur kurz stehen.